Kapitel 2 Wahrnehmung
„Wie müsste man eine Brille konstruieren, die die linke Hälfte der Welt rot und die rechte grün erscheinen lässt? Erklären Sie anhand Ihrer Kenntnis des visuellen Systems, warum man nicht einfach das eine Glas rot und das andere grün färben kann.“
Das Glas müsste pro Auge jeweils in eine linke rote Seite und eine rechte grüne Seite geteilt werden. Die Gläser müssten so eingemessen sein, dass die vertikale (saggitale) Trennung in der Mitte der Pupille geschieht, wenn man geradeaus schaut.
Der Nervus opticus (Sehnerv) ist unterteilt in die linke und rechte Hälfte des Blickfelds (Nasal = „zur Nase“/Temporal = „zur Seite“). Dabei verbleibt das linke Blickfeld des rechten Auges auf dem Weg über das Chiasma opticum (grc. Kreuzung; Chi = X; Sehnervkreuzung) und dem Corpus geniculatum laterale (Kniehöcker der Hörbahn) bis zum visuellen Kortex auf der rechten Hemisphäre (Gehirnhälfte). Das rechte Blickfeld des rechten Auges kreuzt das Chasma opticum auf die linke Hemisphäre, weiter über den Corpus geniculatum zum visuellen Kortex. [Das Blickfeld des linken Auges entsprechend spiegelbildlich.]
„Stellen Sie sich eine blinde und eine taube Person vor, die gemeinsam eine unbekannte Umgebung durchqueren. Bei welchen Aufgaben wäre eine der Personen jeweils stärker oder schwächer benachteiligt? Was würde sich in einer veränderten Umwelt ändern, z. B. bei Dunkelheit? Wie würden die beiden kommunizieren, um praktische Probleme zu lösen?“
a) Aufgaben bei denen blinde Personen stärker oder schwächer benachteiligt wären: Wenn die blinde Person nicht gerade Klicksonar von Daniel Kish verwendet, dann müsste die unbekannte Umgebung abgegangen und/oder abgetastet werden, um eine Vorstellung zu erhalten. Gerüche, Geräusche oder Empfindungen wie Wind, Temperatur und Sonnenstrahlen auf der Haut liefern ebenfalls Hinweise.
Aufgaben, bei denen taube Personen stärker oder schwächer benachteiligt wären: Taube Personen können die Objekte in ihrer Umgebung zwar sehen, doch gehen auch hier Informationen verloren. Bei einem parkenden Auto kann nicht erkannt werden ob z. B. der Motor läuft. Objekte außerhalb des Sichtbereichs, wie ein (von hinten) herannahendes Fahrzeug mit eingeschalteter Sirene, oder ein, durch eine Mauer verdeckter, bellender Hund entzieht sich der Wahrnehmung. Vibrationen, die durch die Drucksensoren der Haut wahrnehmbar sind, könnten zusätzliche Informationen liefern. Natürlich auch alle anderen übrigen Sinne. Den Geschmackssinn lasse ich mal außen vor. Zum einen, weil niemand seine Umgebung mit der Zunge erkunden will und zum anderen ist der Geschmackssinn von allen menschlichen Sinnen der schlechteste!
b) Bei einer veränderten Umwelt z. B. Dunkelheit wäre es für die blinde Person normal, die taube Person verliert dadurch zusätzlich einen Sinn.
Bei z. B. bei Lärm (Baulärm, Verkehrslärm, laute Musik) wäre es umgekehrt. Auch absolute Stille, wie in einem Klanglabor, in dem die Wände keinerlei Echo reflektieren, ist die Orientierung für blinde Personen deutlich erschwert.
c) Die taube Person kann die blinde Person über Sprache das praktische Problem mitteilen. (Was durchaus nicht selbstverständlich ist, taube Personen müssen völlig anders sprechen lernen!). Die blinde Person könnte sich über Gebärdensprache mitteilen. Bis diese beiden Hürden überwunden werden, könnten sie taktil kommunizieren und sich gegenseitig führen.
„Das visuelle System verfügt über eine ganze Anzahl von Konstanzleistungen, z. B. Größen-, Helligkeits-, und Farbkonstanz. Wozu könnten diese Konstanzleistungen dienen? Was würde passieren, wenn sie wegfielen? Sind sie nicht eigentlich eine Form von visuellen Täuschungen? Können Sie sich ähnliche Konstanzleistungen in anderen Sinnesmodalitäten vorstellen?“
[Anmerkung] Die ersten beiden Teilfragen hatte ich so in einer Klausur und hatte die volle Punktzahl auf folgende Antwort:
Größenkonstanz ist die Fähigkeit einem Objekt, unabhängig von Entfernung und Blickwinkel, eine Größe zuzuordnen. Das System muss die Entfernung über Tiefenhinweise abschätzen, um die Größe einzuordnen.
Helligkeitskonstanz ist die Wahrnehmung gleichbleibender Lightness trotz Unterschiede in der Beleuchtung. Die Reflektanz der Oberfläche eines Objekts wird als homogen angenommen, auch wenn ein Teil davon im Schatten liegt. (Gilt für einfache Umgebungen, matte Oberflächen und homogener Beleuchtung.)
Farbkonstanz ist die gleichbleibende Wahrnehmung von Farbe unter unterschiedlichen Beleuchtungen.
Die Abbildung der dreidimensionalen Welt bleibt, trotz unserer beider Augen, auf der Verarbeitungsebene zweidimensional. Konstanzleistungen dienen dazu aus dieser Zweidimensionalität eine dreidimensionale Vorstellung z. B. von Objekten im Raum zu erlangen und Fragen zu beantworten wie: Wie weit ist das Objekt entfernt?; Wie groß ist das Objekt?; Welche Form hat das Objekt? usw.
Wenn diese Konstanz wegfallen würde, dann würden wir einen ebenen Boden durch ungleichmäßige Beleuchtung entweder als uneben wahrnehmen, oder wir wüssten nicht, ob ein Schatten auf dem Boden nur ein Schatten oder ein eigenständiges Objekt ist. Es wäre deutlich schwieriger sich rein visuell durch den Raum zu bewegen. [Ende Prüfungsfrage]
Ähnliche Konstanzleistungen muss es auch in anderen Sinnesmodalitäten geben. Z. B. Klingt der gleiche Ton in verschiedenen Umgebungen (im Badezimmer oder im Wald) anders und trotzdem können wir ihn wiedererkennen. Das kann eine vertraute Stimme sein, ein Musikstück usw.
Auch unser Tastsinn vertraut darauf. Wenn wir mit den Fingerkuppen von Zeigefinger und Mittelfinger eine Kante entlangfahren, dann erkennen wir deutlich eine Kante. Dazu ein kleines Selbstexperiment: Die gleiche Kante mit gekreuzten Zeigefinger und Mittelfinger entlangfahren. Wie viele Kanten spüren wir nun?
„Zeigen Sie anhand Ihres liebsten Musikstücks die Gestaltgesetze der auditiven Wahrnehmung auf. Über welche Wahrnehmungsleistungen müssen Musiker verfügen, um ein Stück gemeinsam zu spielen?“
Da ich kein liebstes Musikstück habe, denn ich liebe viele Lieder und Genres. (Von Heavy Metal Klassikern wie Iron Maiden und AC⚡DC angefangen bis hin zu französischen Liedern von Stormae, Maître Gims und Louane ist vieles dabei.) Deshalb wähle ich zum Finale der 2. Staffel von Star Trek: Picard die Main Theme.
Die Gestaltgesetze sind sehr ähnlich der Figurerkennung in der visuellen Wahrnehmung.
Gesetz der Ähnlichkeit: Abgesehen von dem „klirrenden Klang der Glasscherbe“, startet das Intro mit zwei prägnanten, sich abwechselnden, Klavieranschlägen, die von einem einsetzenden Flötenspiel begleitet werden. Nachdem die beiden führenden Instrumente ausklingen, setzt ein Geigenspiel ein. Man kann jedem einzelnen Instrument sehr gut folgen, da die Ähnlichkeit der Töne des jeweiligen Musikinstruments gruppiert werden.
Gesetz der Nähe: Auch als mehrere Streicher einsetzten, ist es mit etwas Übung möglich, den Melodien der verschiedenen Streichern zu folgen. Das liegt an der räumlichen Nähe der Schallereignisse. (Denn hier handelt es sich um gleiche Instrumente, sodass wir nicht auf das Gesetzt der Ähnlichkeit zurückgreifen können.)
Gesetz der guten Fortsetzung: Gerade ab dem Mittelteil kreuzen sich die Melodien der Streicher und Bläser. Die beiden Melodienverläufe sind trotzdem gut zu hören. Es ist also nicht so, dass die eine Melodie sich von oben dem Kreuzungspunkt nähert und wieder ansteigt und die andere Melodie sich von unten dem Kreuzungspunkt nähert und wieder abfällt.
Gesetz des gemeinsamen Schicksals: Während wir dieses Lied hören, können wir unterscheiden, ob wir uns in Relation zu den Boxen (Schallquelle) bewegen, oder ob sich die Boxen in Relation zu uns bewegen. Dadurch können wir uns mit geschlossenen Augen an einer Schallquelle räumlich orientieren.
Gesetz der Prägnanz: Da ich in dem Punkt zu sehr Laie bin, um das Gesetz auf das ausgewählte Lied zu übertragen, halte ich mich mehr an die Worte aus dem Buch. Es werden die Elemente bevorzugt gruppiert, die eine „prägnante“ Form ergeben. In vielen Bereichen der klassischen Musik, des Jazz und der Popmusik gibt es feststehende Wendungen oder Phrasen, die sofort als Einheit erkannt werden.
Musiker müssen über die ersten drei Wahrnehmungsleistungen verfügen. (1) Gesetz der Ähnlichkeit, weil die Klangfarbe (Oktave) des jeweiligen Instruments erkannt werden muss; (2) Gesetz der Nähe, um sich auf die eigene Melodie konzentrieren zu können, wenn mehrere gleiche Instrumente gleichzeitig spielen; (3) Gesetz der guten Fortsetzung, um bei sich kreuzenden Melodien nicht abgelenkt zu werden.
„Synästhetische Empfindungen sind im Allgemeinen spezifisch für die betreffende Person. Viele Synästheten zeigen aber charakteristische Ähnlichkeiten in ihren Empfindungen: So assoziieren viele Ton-Farb-Synästheten tiefe Töne mit dunklen und hohe Töne mit hellen Farben. Wie würden Sie solche Gemeinsamkeiten erklären?“
Die Verarbeitungspfade des visuellen und des auditiven Systems liegen recht dicht zusammen und sind sehr ähnlich aufgebaut.
(i) Retina → Chiasma Opticum → Corpus geniculatum laterale (CGL) → primärer visueller Kortex (V1)
(ii) Retina → Chiasma Opticum → prätektale Region → Colliculi superiores
(i) Cochlea → Hirnstamm → Corpus geniculatum mediale (CGM) → primärer auditiver Kortex (A2)
(ii) Cochlea → Hirnstamm → Culliculi inferiores
Die Grundprinzipien der Verarbeitung selbst sind ebenfalls sehr ähnlich. Beide Systeme arbeiten mit Konvergenz bzw Divergenz – (eine Zusammenführung bzw Auffächerung der erfassten Informationen); sie nutzen multiple Karten zur Spezialisierung auf verschiedene Reizeigenschaften.
Daraus Resultiert, dass der Ton das entsprechende Farbempfinden nicht auf der Retina erzeugt wird, sondern in den Verarbeitungspfaden. Soviel um ein minimales Grundverständnis zu diesem Phänomen zu erlangen.
Nun zu dem spekulativen Teil der Antwort. Ich würde diese Gemeinsamkeit wie folgt erklären: Ein übersprechen der Frequenzen würde ich ausschließen, obwohl die Gemeinsamkeit es im ersten Moment nahelegen würde. Das sichtbare Spektrum liegt bei etwa 384 THz bis 789 THz; das hörbare Spektrum liegt bei etwa 20 Hz bis 20 kHz. Nach dieser Analogie müssten Synästheten bei Bässen rote Farben sehen und bei schrillen Tönen eher blaue. Dazu konnte ich leider nichts finden, wäre aber ein äußerst interessantes Thema! Da die Empfindung von dunkel nach hell beschrieben wird, könnte es an der Lage der Noten im Verhältnis zur Lage der Empfindung im Körper entstehen. In Dunkelheit bekommt man eher ein komisches Gefühl im Bauch, ähnlich wie es ein Bass erzeugt. Wird man durch besonders helles Licht geblendet oder die Ohren durch einen schrillen Ton überfordert, dann spielt sich das weiter oben im Körper ab. Nach dieser Annahme korreliert die Wahrnehmung des Ton-Helligkeit-Paars mit der Lage von der Empfindung im Körper.
[Man muss jedoch beachten, dass die Notenlinien eine willkürliche Anordnung sind! Es wurde dazu festgelegt, dass tiefe Töne unten sind und hohe Töne oben. In einigen neueren Smartphone-Apps zum Lernen von Gitarre und Klavier ist das jedoch nicht so! Hier sind die tiefen Töne links, die hohen Töne rechts und die Noten laufen von oben nach unten oder umgekehrt.]